Nachdem nun The Sense of the Sleight-of-Hand-Man hinter uns liegt, wir uns durch A Music From a Darkened Room (Delta Green) gezittert haben und schließlich noch The Dream Merchants (Delta Green aus dem 2019er Shotgun-Contest) besucht worden sind, stehen eigentlich für das nächste Jahr Die Froschkönig-Fragmente an. Da aber die Aufarbeitung dieses 80 Seiten Prosawerkes seine Zeit dauert, überbrücken wir die Zeit mit der momentan einzigen offiziellen Delta Green Kampagne: Future/Perfect. Beginnen wir mit Teil I Episode 1.
Aufzeichnungen von Mort/Seth
Hey Beth,
bin nicht sicher, ob es nicht das letzte Mal ist, dass Du von mir hörst. Ich versuche hier nicht, melodramatisch zu sein, aber diesmal könnte es mich echt erwischt haben. Ich bemühe mich, alles so genau aufzuschreiben, wie es geht, und hoffe, dass ich nicht zu viel durcheinander bringe, mir geht's echt beschissen. Ich hatte ja schon gedacht, dass mich der Verein einfach vergessen hätte. Ein bisschen hab ich mir das wohl auch gewünscht. Das Geld, das die zahlen, ist zwar schon nett, ich bin nur nicht mehr sicher, ob es das wert ist. Spätestens jetzt nicht mehr.
Aber dann kam vor einiger Zeit doch wieder eine Nachricht, ich solle nach Sacramento kommen, asap natürlich. Naja, Sascha ist das mittlerweile ohnehin völlig egal, ich musste mir diesmal also immerhin keine Geschichte ausdenken, weshalb ich ganz plötzlich weg musste.
Die Mission fing anders an als die bisherigen. Zwar waren meine bekannten Mitstreiter wieder dabei, allerdings wurden wir in meiner Abwesenheit der Zelle M zugeteilt. Das bedeutete, dass ich mir wieder einen neuen Tarnnamen ausdenken und mir ihre neuen Namen merken musste. Marvin, Mona und Mort. Klingt wie eine ziemlich schlechte Comicsendung.
Allerdings waren wir diesmal für Monas eigentlichen Arbeitgeber tätig, das FBI. Daher war sie unter ihrem richtigen Namen unterwegs, Claire Detrouvert, und wir mussten uns welche zulegen. Marvin entschied sich für Ralph, ich für Seth. Wir bekamen unsere Anweisungen von einem eingeweihten Special Agent, Clark Grunberg, der uns davor warnte, dass unser offizieller Vorgesetzter Michael Turk großes Interesse daran hätte, bei der ganzen Sache als strahlender Held rauszukommen. Da Mona/Claire ja als sie selbst im Einsatz war, würden wir doppelt unauffällig sein müssen. Er gab uns ein Handy und wies uns an, ihm sofort Bescheid zu geben, sollte eine Gefährdungslage für die Bevölkerung bestehen.
Wir sollten einen Doppelmord untersuchen, dessen Umstände so sonderbar waren, dass sie das FBI und Delta Green auf den Plan gerufen hatten. In einem gottverlassenen Kaff im Death Valley namens Hellbend waren zwei Leute auf ziemlich brutale Art hingemetzelt worden. Ein ehemaliger Stahlarbeiter und eine Künstlerin, die auf den ersten Blick keine Gemeinsamkeiten zu haben schienen. Der Tod des Mannes war vom örtlichen Coroner als bizarrer Unfall mit einem Bobcat abgetan worden, aber nachdem ein paar Wochen später die ähnlich übel zugerichtete Leiche der Frau gefunden worden war, hatte er seine Einschätzung noch einmal überdacht. Wir sollten also offiziell einen Mörder für das FBI finden und inoffiziell prüfen, ob dabei irgendwelche Monster im Spiel waren, das Übliche. Zuerst sind wir zum Sheriff Alfred Mann in Independence gefahren, der für die Gegend da verantwortlich ist. Der arme Kerl war natürlich mit so einer Sache völlig überfordert und ziemlich froh, dass er den Fall loswurde.
Das erste Opfer, ein pensionierte Stahlarbeiter namens Clifford Potter, war am 5. März von Jarvis Greene gefunden worden, der in der Tankstelle von Hellbend arbeitete und ihm sein Bobcat geliehen hatte. Vermutlich hat Jarvis sich Sorgen um sein Gerät gemacht und dann die Gegend abgesucht. Clifford war Anfang der 90er nach Hellbend gezogen. Er trieb sich oft auf einem verlassenen Industriegelände rum und sammelte da irgendwelchen Schrott und buddelte Löcher. Wir hatten mittlerweile zu viel sonderbares Zeug erlebt, so dass wir sofort misstrauisch wurden. Was hatte der alte Mann gesucht und vielleicht ausgegraben? Was hatte es mit dem Gelände auf sich?
Das zweite Opfer war vom jungen Deputy Lucas Androzy am 8. Mai gefunden worden. Lucille Maier, die als Künstlerin gearbeitet und mit ihrer Freundin ebenfalls in Hellbend gelebt hatte, war am 24. März als vermisst gemeldet worden. Sie hatte schon einige Tage in der Wüste gelegen, bis der Deputy über ihre Leiche gestolpert war. Dementsprechend war nicht mehr viel von ihr übrig. Lucille hatte regelmäßig in der Umgebung nach Material für ihre Skulpturen gesucht und war im Süden des Ortes aufgefunden worden.
Mona und Marvin gingen nach dem Gespräch mit dem Deputy zum Coroner Dr. Abner White, um sich die Toten anzusehen. Ich lehnte dankend ab. Die paar schlechten Bilder, die gemacht worden waren, reichten mir. Die beiden erzählten, dass die Leichen tatsächlich aussahen, als wären sie in einen Fleischwolf geraten. Es waren Stücke herausgerissen worden, der Frau fehlte sogar ein ganzer Arm. Die Körper waren mit großen Schnittwunden übersäht und die Knochen gebrochen. Ganz sicher war kein Tier in dieser Gegend zu so etwas in der Lage. Marvin äußerte den Verdacht, dass das Wesen, das dafür verantwortlich war, eventuell fliegen konnte und den Körper von Lucille abgeworfen hatte.
Da wir auf dem Weg zu unserer Unterkunft ohnehin durch Hellbend mussten, fuhren wir gleich noch beim Gas'n'Sip vorbei, um mit Jarvis zu sprechen. Jarvis war ein etwas verpeilter junger Typ, der für seinen Grandpa arbeitete und sichtlich nervös war, als er mit uns sprach. Er zeigt uns sein Bobcat, an dem noch einiges von Clifford klebte. Marvin fand unter dem Fahrzeug eine sonderbare orangene Schuppe oder Feder oder was weiß ich. Schien so, als würden wir es diesmal tatsächlich nicht nur mit fliegenden, sondern auch mit ziemlich bunten Monstern zu tun bekommen. Außerdem war an der Außenseite neben dem Blut noch eine stark nach Ammoniak riechende Flüssigkeit verteilt, von der Marvin Proben nahm. Jarvis selbst konnte uns nicht viel Neues erzählen. Er machte sich in erster Linie Sorgen, dass wir ihn wegen seines offensichtlichen Gras-Konsums hochnehmen würden.
Wesentlich interessanter war sein Grandpa, Montgomery Greene. Der berichtete uns nämlich, dass Clifford ein ausgeprägtes Interesse an dem alten Industriegelände gehabt hätte, das in den 50ern in die Luft geflogen war, und ihn insbesondere zum Firmenchef Arthur Hunt und dessen sonderbaren Angewohnheiten ausgefragt hätte. Hunt Electrodynamics hatte in den 40ern noch tausende Arbeiter in Hellbend beschäftigt, bis das Gebäude aus ungeklärten Gründen Anfang der 50er in die Luft geflogen war. Grandpa Greene war bis zu diesem Zeitpunkt der persönliche Assistent des Firmenbosses, der bei dem Unglück ebenfalls zu Tode kam. Und dieser Kerl war offenbar ein sehr seltsamer Zeitgenosse, der immer eine merkwürdige Brille trug, nie schlief, darauf bestand, dass in seinem Büro, welches er so gut wie nie verließ, tropische Hitze herrschte, nur ganz spezielles Gemüse aß, ein fotografisches Gedächtnis hatte, an einer Art "Code“ arbeitete und der ein wahres Genie gewesen zu sein schien.
Volltreffer.
Das Ganze schrie schon wieder nach unheimlicher Scheiße. Dieser Hunt war selbst irgendein komisches Wesen oder er arbeitete für komische Wesen. In seiner Firma hat er vermutlich noch an ganz anderen Sachen geforscht als an Kühlschränken und Telefonen. Seine Arbeit ist ihm dann um die Ohren geflogen und was auch immer er in seinen Kellern gezüchtet hatte und bei der Explosion eingeschlossen worden war, hatte der neugierige Clifford wieder ausgebuddelt. Und jetzt marodierte eine Art Monsterechsenhuhn in Hellbend herum und fraß die paar armen Seelen, die noch nicht aus dem Kaff geflüchtet waren.
Soweit meine Theorie.
Clifford hatte regelrechte Interviews mit Grandpa Greene über diesen Typen geführt und seine Aufzeichnungen mussten noch in seinem Haus liegen. Wir entschieden uns also, das Haus auch noch heute zu untersuchen. Es lag etwas abseits und hatte keine unmittelbaren Nachbarn. Im hinteren Teil sahen wir die Luke zu einem Tornadoschutzkeller. Im Haus selbst fanden wir auf dem Küchentisch schwere Arbeitshandschuhe, die von einem sonderbaren Staub rot gefärbt waren. Daneben lagen noch eine Karte, zwei Bücher, ein Tonbandgerät mit mehreren Tonbändern und ein Notizblock.
Cliffords Notizen handelten von Maschinenteilen, Abmessungen und Radioaktivität. Die Karte zeigte ein Geflecht an Wegen oder Straßen, die sich alle um etwas Rundes im Zentrum erstreckten. Eine Zeichnung erinnerte grob an einen Reaktor mit Kühlflüssigkeit. Die beiden Bücher handelten von Radioaktivität und spätestens jetzt fragten wir uns ernsthaft, was dieser verrückte Hunt in seiner Fabrik getrieben hatte. Marvin nahm vorsichtig Proben von dem roten Staub an den Handschuhen, auch wenn wir uns kaum vorstellen konnten, dass Clifford wissentlich verstrahltes Zeug auf seinem Küchentisch liegen gelassen hatte.
Ich griff mir das Handy, das wir von Special Agent Grunberg bekommen hatten und teilte ihm unsere bisherigen Erkenntnisse mit. Ich sagte ihm, dass wir es hier eventuell mit Radioaktivität zu tun hätten und bat um Geigerzähler. Claire fand die Tatsache, dass wir so offen am Telefon sprechen sollten, verdächtig. Sie hatte da auch durchaus Recht. Bei allen bisherigen Einsätzen waren wir bis zum Abschluss des Einsatzes mehr oder weniger auf uns allein gestellt gewesen und nun sollten wir plötzlich einfach so Hilfe erbitten können? Aber uns war auch klar, dass wir hier nicht einfach so ein potentiell verstrahltes Gelände untersuchen konnten. Grunberg sicherte uns zu, dass er einen Kurier schicken würde, der morgen die angeforderte Ausrüstung vorbeibringen sollte. Er betonte, dass ein verstrahltes Firmengelände für enorme Panik sorgen würde und dass wir auf jeden Fall verhindern sollten, dass etwas davon an die Presse geriet.
Danach machten wir uns an die Untersuchung des Schutzkellers. Der Raum war komplett leer, aber uns fiel auf, dass der Boden sorgfältig geharkt worden war. Lediglich zwei Fußabdrücke am Treppenende waren zu sehen. Marvin hatte die richtige Idee und stocherte mit der Harke im Sand in der Mitte des Raumes herum - und wurde fündig. Er grub vorsichtig weiter und legte eine Plastiktüte mit einer Art Würfel sowie ein großes Einmachglas frei. Clifford schien erfolgreich auf Schatzsuche gegangen zu sein und seinen Fund hier vergraben zu haben.
In dem Einmachglas schwamm ein riesiges Insekt in einer Flüssigkeit, das wie eine gigantische Libelle aussah. Das Mistvieh musste gut und gerne 70cm lang sein, auch wenn es jetzt verdreht und gekrümmt war, um in das Glas zu passen. Wir mussten an die bunte Federschuppe denken, aber die passte nicht zu diesem Monstrum hier.
Beim Anblick des Würfels bekam Mona beinahe Schnappatmung, weil sie davon überzeugt war, er wäre aus purem Gold. Ich konnte mir das nicht vorstellen und nahm das Teil in die Hand, um es genauer anzusehen. Auf den Seiten waren wirre Symbole eingraviert, die mir aber nichts sagten. Plötzlich wurde mir schwarz vor Augen. Der Würfel fiel mir einfach aus den Händen und ich taumelte nach hinten. Mir war kotzübel und ich dachte panisch an eine von Cliffords Notizen: „Radioaktiv?“
Dieser verdammte Würfel war verstrahlt!
Ich stürzte aus dem Keller und musste mich wirklich zusammenreißen, um mich nicht zu übergeben. Die beiden anderen kamen kurz hinter mir raus. Marvin checkte mich kurz durch und sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. Er fand im Haus noch Jodtabletten, von denen wir auf gut Glück einige einwarfen. Wir fuhren dann endlich zur Furnace Creek Ranch und ich durchsuchte das Internet nach dem Begriff „radioaktives Gold“. Aber die von Menschen hergestellte Menge ist mikroskopisch klein, ein Objekt von der Größe des sonderbaren Würfels zu schaffen war eigentlich nicht möglich.
Wir hörten uns noch die Tonbänder an, auf denen Clifford Montgomery Greene zu Arthur Hunt befragte. Neben dem, was uns Greene schon erzählt hatte, fanden wir noch heraus, dass Hunt angeblich 12 Sprachen beherrschte und die Sonne hasste. Greene berichtete auch, dass er das Gemüse für seinen Boss sorgfältig waschen musste und der merkte, wenn er das versäumt hatte. Einmal habe er sich beim Zubereiten leicht geschnitten und als er in Hunts Büro gegangen sei, habe Hunt einen Tobsuchtsanfall bekommen, weil er das Blut gewittert habe. Er schien panische Angst vor Blut zu haben.
Dann untersuchte Marvin noch die Probe der nach Ammoniak riechenden Flüssigkeit, die er am Bobcat genommen hatte, und stellte fest, dass sie vermutlich von irgendeinem Tier stammte.
Beth, ich muss zugeben, dass ich nicht mehr richtig bei der Sache bin. Keine Ahnung, wie hoch eine tödliche Strahlungsdosis ist und auch nicht, wie stark es mich erwischt hat, es geht mir bis jetzt einfach nur hundeelend.
Aber was hatte der Typ damals noch zu Dir gesagt, als Du dachtest, es ginge zu Ende?
„Jammer nicht darüber, dass du jetzt sicher sterben wirst. Stell dir vor wie peinlich es wäre, wenn du dann doch überlebst.“
-- Molybdaen